Als ob man einem Freund beim Sterben zusieht

Felix Neureuther zum Zustand der Gletscher

Ex-Skirennfahrer Felix Neureuther ist Österreichs liebster Deutscher. Warum seine Kritik am Ski-Weltcup kein Nestbeschmutzen ist, er kein Klimaaktivist ist, was er für Lösungen bietet. Und was für den dreifachen Vater das größte Glück ist. Er sieht sich als Kind der Berge – und einen Kämpfer für dem Skisport; am liebsten nachhaltig

Seit Mitte Jänner erinnert das Wetter im Alpenraum wenig an Winter. Wie geht es einem Skifahrer da?

FELIX NEUREUTHER: Wenn ich bei mir grad aus dem Fenster schaue: Das ist schon ein Wahnsinn. Ich war gerade mit meiner Frau und den Kindern draußen, den Garten herrichten . . . Anfang Februar fühlt man sich wie im April. Solche Phasen wird es immer wieder geben. Aber es wird auch wieder wahnsinnig kalt werden, sehr viel schneien. Das alles macht es für den Tourismus nicht einfach, aber natürlich auch nicht für den Skiweltcup.

Sie wurden nach der Karriere auch zum Buchautor. Warum?

Fakten zu erzählen, ist schwierig. Aber mit kleinen, emotionalen Geschichten kann man Menschen erreichen. Ein Grund für die Bücher ist, dass ich die Möglichkeit habe, auf Menschen hinzuweisen, die tolle Ideen haben, Vorbilder sind. Menschen, die uns auch zeigen: Es muss nicht immer das Maximum sein. Mitunter ist ein Gänseblümchen wertvoller als ein teurer Blumenstrauß.

Wie vermitteln Sie aber, dass es, was etwa die Gletscher betrifft, schon eins vor zwölf ist?

Das Vermitteln ist schwierig, man muss es erleben. Es ist dramatisch. Und wenn man sich damit beschäftigt, wie wichtig die Gletscher für den Alpenraum sind und wie schnell sie zurückgehen, versteht man, auf welch massives Problem wir zurollen. Für mich ist es, wie wenn man einem Freund beim Sterben zusieht.

Sehen Sie sich angesichts der Wetterlage auch als Klimaaktivist? Als Warnender?

Nein, ich bin kein und sehe mich nicht als Klimaaktivist. Auch nicht als Kritiker dessen, was ich früher selbst gemacht habe: Skisport. Ich bin nach wie vor einer seiner größten Fans, Skifahren ist meine erste große Liebe. Ich will dem Skisport nicht schaden, ich bin kein Nestbeschmutzer, wie es manchmal dargestellt wird. Ich will lösungsorientiert denken und viele an den Start bringen, sich selber in dieser Thematik, auf den Weg zu machen. Und zwar im Bewusstsein: Was muss man tun, dass Athletinnen und Athleten wieder im Vordergrund stehen? Wie muss man ihn aufstellen, damit es auch unseren Kindern noch möglich ist, Skisport zu betreiben? Und zwar nicht nur noch elitären Kreisen?

Warum ist das wichtig?

Weil wir sonst keine Märchen mehr haben, wie das von Hermann Maier, der vom Maurer zum Olympiasieger wurde. Oder das von meiner Mama, die von der Winklmoosalm zur Olympiasiegerin wurde. In dieser Form wäre das heute nicht mehr möglich. Dabei brauchen wir solche Vorbilder als Gesellschaft ganz, ganz dringend: Sportler, die mit Werten vorangehen, an die sich die Gesellschaft auch halten kann.

Die da wären?

Die Liebe zur Natur, die Verbindlichkeit zur Natur, das Immer-wieder-Aufstehen, das Kämpfen, das faire Miteinander. Das alles kann der Sport bieten – und die Gesellschaft würde all das brauchen. Der Skisport war früher eine Chance, ein anderes Leben zu leben. Meine Mama durfte durch den Skisport die Welt sehen, erleben. Daher: Ich versuche nicht, den Skisport schlechtzureden. Ich versuche, Dinge anzustoßen, damit man für den Skisport Positives machen kann.

Sie zeichnen ein romantisches Ski-Bild. Gibt es das überhaupt noch?

Erst letzte Woche gab es beim Dorf-Lift in Farchant nahe Garmisch ein Kinderrennen. Da waren alle mit Herzblut dabei: Die Feuerwehr, der Fußballklub, der TSV, es war unfassbar und wunderbar: 225 Kinder hatten mit ihren Familien am Tellerlift eine Gaudi. Und jetzt nenn‘ mir eine andere Sportart, wo das noch so geht? Du bringst Alt und Jung zusammen, jeder zieht an einem Strang. Das gibt es sonst nicht, das schafft auch der Fußball nicht. Unglaublich, wie toll das im Kleinen funktioniert.

Im Großen nicht?

In den großen Tourismuszentren wäre so etwas nicht mehr möglich. Da stehen andere Interessen im Vordergrund, der Tourismus ist wichtig. Aber wir müssen die ursprünglichen Werte des Skisports vermitteln. Skisport ist Kultur und Freude am Leben in einer Zeit, die ohnehin mit extremen Problemen behaftet ist. Wir müssen den Kindern doch Hoffnung vermitteln – all das schafft der Sport.

Momentan stellen manche den Skisport aber eher Hauptverursacher der Klimakrise dar.

Das stimmt aber so definitiv nicht. Klar, manchmal passieren in Skigebieten Dinge, da schüttelt man den Kopf und denkt sich: Muss das jetzt sein? Aber: 80 Prozent der CO2-Emissionen entstehen bei An- und Abreise. Der Skisport an sich setzt viele Dinge schon toll um, etwa, was die Energiegewinnung betrifft oder die Schneeerzeugung. Da läuft viel in die richtige Richtung.

Warum dann das mitunter schlechte Image?

Weil unsere Zeit so ist, die sozialen Medien. Auf einen Post bekommst du 100 positive und eine negative Nachricht – aber diese eine bleibt hängen.

Dann ist da die andere Seite, die Klimaschutz schnell als „Klimaterrorismus“ sieht.

Ein Problem der Gesellschaft: Es gibt nur noch schwarz oder weiß, das sieht man ja auch daran, wie gewählt wird. Der vernünftige Mittelweg ist scheinbar nicht mehr der richtige. Dabei denke ich, dass er es wäre.

Dazu kommen die vielen Verletzten im Weltcup: Wie kann man da das eigene Kind zu diesem Sport bringen?

Das Faszinierende: Frag‘ eine Athletin, einen Athleten, ob sie nach solchen Verletzungen aufhören wollen. Nein, die wollen alle zurück. Weil der Skisport eben so faszinierend ist. Klar, es muss etwas passieren. Der Skisport braucht dringend Stars. Sind die verletzt, hat er ein Problem.

Was muss man ändern?

Die Athletinnen und Athleten schützen, sie hegen. Die Höhepunkte so setzen, dass sich auch die Stars regenerieren können. Das hat ja auch Mikaela Shiffrin eben beklagt. Aber es muss offenbar immer etwas Schlimmes passieren, damit Veränderung eintritt. Das bräuchte es aber nicht.

FIS-Präsident Johan Eliasch zielt aber derzeit eher auf Ausweitung der Märkte und mehr Rennen ab, träumt von Preisgeldern wie im Tennis.

Das wird nie passieren, auch wenn es schön wäre. Und so schlecht geht es den Skifahrern ja nicht. Im Tennis gibt es vier große Turniere – im Skisport ist jedes Rennen gleich viel Punkte wert. Da kannst du nicht immer noch mehr machen. Der Skisport hat den genialen Jänner: Adelboden, Wengen, Kitzbühel, Schladming. Den muss man schützen, diese Bilder machen den Skisport auch international groß Und wir brauchen Klarheit.

Was ist denn unklar?

In den 70er-Jahren gab es drei Disziplinen: Die Abfahrt klärte, wer am schnellsten von oben nach unten kommt. Dann den Riesentorlauf für den schnellsten Schwung, den Slalom für den schnellsten kurzen Schwung. Und aus. Das war fair, damit schuf man auch Allrounder. Und dann? Gab es so viele Disziplinen, dass sich keiner mehr auskennt. Man sollte dieses tolle Produkt wieder glaubhaft und verständlich in Szene setzen. Dann kann der Skisport wieder wachsen.

Welche Lösungen braucht es noch?

Natürlich die sozialen Medien. Wenn ich da an die großen US-Ligen denke, an NBA, NFL oder Golf: Wenn Tiger Woods am ersten Loch ein Birdie spielt, ist es Sekunden später im Kurzvideo auf den sozialen Medien. So animierst auch die Jungen, einzuschalten. So muss auch der Skisport Menschen erreichen. Du musst „liviger“ werden.

Mit ihrer Initiative „Beweg dich schlau“ werden Sie selbst aktiv, wenn es darum geht, die Kinder zu Bewegung zu animieren. Warum?

Darüber, dass unser Bildungssystem nicht mehr zeitgemäß ist, brauchen wir ja gar nicht zu reden. Es hat sich in den letzten 20 Jahren alles verändert. Es wäre so wichtig, dass die Kinder zeitgemäß und mit zeitgemäßen Themen gebildet werden. Aber das System ist veraltet, besonders, was die Förderung von Kreativität betrifft. Dabei wären Sport, Kunst du Musik, also Kreativität, in Zeiten von Digitalisierung und KI enorm wichtig.

Man kann sich vorstellen, dass auch Sie oft gegen Wände laufen mit dieser Initiativen, oder?

Es braucht Geduld. Was mir Kraft gibt, sind die Kinder, aber auch viele Eltern. Man muss Dinge immer wieder ansprechen, dranbleiben. Es ist frustrierend, wenn du in der Politik Dinge ändern willst, weil das eine Ewigkeit dauert.. Also muss ich selber etwas bewegen. Aus dem Sport kenne ich das anders: Wenn ich etwas ändern wollte, habe ich keine Woche gewartet, sondern in der Sekunde begonnen.

Apropos Jahre: Gibt es den Ski- und den Skirennsport in 20 Jahren noch?

Den wird es natürlich geben. Es wird ja definitiv noch schneien, wenn auch nicht so konstant. Und die Faszination bleibt bestehen. Wir hier in den Alpen brauchen den Skisport.

Warum?

Weil er die Chance bietet, die Familien und Millionen von Menschen sozial zusammenzuhalten. Das Telefon, das schwarze Kastl, ist dann weit weg. Und ehrlich: Was ist das größte Glück??

Ich höre?

Das größte Glück ist eine Familie, die zusammenhält. Ich habe das erlebt, in keiner einfachen Zeit, als die Mama gestorben ist. Aber, wenn ein Mensch gehen darf und auf seine Familie schaut und weiß: Es ist gut so, wie es ist, dann kann man glücklich gehen. Das ist das größte Glück am Ende des Lebens. Dazu muss man das Leben leben, Freude vorleben und Zeit mit der Familie verbringen. Die ist das größte Geschenk, das man machen kann. Und: Skisport kann Familienzeit schenken.

Interview: Michael Schuen, Ressortleiter Sport – Kleine Zeitung Kärnten