Prof. Dr. Ralf Roth im ISPO-Online-Talk über die Sehnsucht der Menschen nach draußen zu gehen, die enorme Bedeutung des Wintersports für die Gesellschaft und den Nachholbedarf, der sich nach dem Neustart einstellen wird.

Prof. Dr. Ralf Roth ist als Leiter des Instituts für Outdoorsport, Ökologie und Umweltforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln der renommierteste Fachmann Deutschlands für diese Thematik. Anlässlich der ISPO 2021, die vor Kurzem online stattgefunden hat, referierte er beim „Dein Winter. Dein Sport.“ – ISPO-Call über die gegenwärtige Situation des Wintersports in der Pandemie und gab einen Ausblick in die Zukunft.

Rückblick auf letztes Frühjahr: Wirtschaft, Industrie & Tourismus

Grundsätzlich ist die Wirtschaft auf Wachstum programmiert. Wie verwundbar das System Wintersport ist zeigt sich, seit vor einem Jahr die Gesamtnachfrage im Wintersport zusammengebrochen ist. Sportverhalten und Nachfrage sind abhängig von Infrastrukturmöglichkeiten. Durch Schließung der Lifte und Seilbahnen sind diese aber nicht mehr gegeben und weil das Sportverhalten auch das Kaufverhalten beeinflusst, trifft das den Nerv der Wintersportbranche und das System Tourismus.

Raus in der Pandemie: Verändertes Freizeitverhalten

Schon im letzten Frühjahr und auch in diesem Winter ist der Aufenthalt von Menschen im Freien, also Outdoor, stark angestiegen. Abstand halten und Maskenpflicht am Parkplatz funktioniert mittlerweile größtenteils sehr gut. Da man sich nicht mehr zuhause oder in Kneipen treffen darf, sind die Grünflächen die neue Sozialfläche geworden. Dazu sorgt die Sehnsucht rauszugehen und sich zu bewegen für volle Rodelhügel, Skitourenaufstiege, aber auch Parks und Seepromenaden zum Spazierengehen. Schneeschuhe und Skitourenausrüstungen sind ausverkauft, in den Skilanglaufzentren in Bayern und im Schwarzwald gab es in den letzten sechs Wochen eine Zunahme um 30%, obwohl keine Gäste vor Ort waren! Dies gilt aber nur für den Freizeitsport, für organisierten Sport wie Unterricht und Training sind ja alle Anlagen geschlossen.

Von den sportlich aktiven Deutschen betreiben 65% Wintersport und bringen es auf 300 Millionen Wintersporttage im Jahr, wozu auch Winterwandern und Schlittenfahren zählen. Das wichtigste Produkt mit den meisten Angeboten ist aber ganz klar Ski Alpin und Snowboard. 7-8 Millionen Menschen, die von Bergbahnen abhängig sind und ihren Sport derzeit nicht ausüben können. Wettkämpfe im Nachwuchsbereich wird es im Winter 2020/21 wohl kaum mehr geben.

Skirennen im TV wecken Sehnsüchte

Immerhin funktioniert der Leistungssport: Bis auf die beiden witterungsbedingt abgesagten Skicross-Weltcups am Feldberg wurden in Deutschland die 24 Weltcup-Veranstaltungen der FIS und alle 9 Biathlonweltcups durchgeführt. Die Wirkung, die von TV-Übertragungen dieser Ereignisse ausgeht, ist enorm: Die Bilder emotionalisieren, sie bringen den Winter nach Hause in die Wohnzimmer. Von allen TV-Übertragungen der langen Wintersporttage in ARD, ZDF und Eurosport werden Spitzenwerte gemeldet – das Produkt funktioniert auch in Corona-Zeiten. Keine Pannen bei Übertragungen, bei den Hygienekonzepten und Sportlern, die sehr professionell mit der Situation umgehen.

Plädoyer für Bewegung im Schnee

In der Pandemie zeigt sich, wie viele Menschen hinausgehen und den Schnee nicht nur im Alpenraum, sondern überall in Deutschland, in den Mittelgebirgen, in den Städten, suchen. Heuer zeigt sich: Schnee ist magisch und Schneesport ist unter allen Sportarten einzigartig und herausragend. Er fordert gleichermaßen Gehirn, kognitive Fähigkeiten und stellt hohe Anforderungen an die Motorik – und das alles in einer ganz besonderen, meist wunderbaren Umgebung.

Die Menschen brauchen ein Reset, ihre Alltagsprobleme müssen abgefedert werden, auch für Erwachsene ist Bewegung im Schnee eine Art Spielplatzerweiterung. Wer je das Gefühl erlebt hat, wenn die Alltagshektik in eine fließende Leichtigkeit übergeht, wenn in der verschneiten Natur unsere Alltagsbegrenzung einer schier grenzenlosen Freiheit weicht, wird immer wieder den Zauber des Winters und des Schnees suchen.

Der Re-Start: Ein langer Weg

7-8 Millionen Alpin-Skifahrer, 4,5 Millionen Langläufer, dazu Snowboard, wie und wann kommen wir dahin zurück? Diese Frage stellt sich schon bald, wenn es darum geht, die Maschine wieder zu starten, stufenweise wieder in den Sport zu kommen, also das, worauf alle hin fiebern.

Man muss derzeit davon ausgehen, dass dieser Re-Start erst im Winter 21/22 stattfinden kann, bis dahin wird der Wintersport substanziell extrem eingeschränkt sein. Im dritten Quartal dieses Jahres eine gemeinsame kuratierte Sicherheit erlangen, im vierten die Bahnen wieder aufsperren, das wäre der Beginn des Neustarts. Wobei es wohl 1-2 Jahre dauern wird, bis wir das Ausgangsniveau wieder erreichen werden.

Dann aber, wenn die Märkte wieder aufgehen, wird es einen erheblichen Nachholbedarf vor allem im Alpinbereich geben! Auch bei den Freizeit-Übernachtungen im In- und Ausland, bei den Skischulen und im Vereinssport.

Zu schaffen ist das laut Prof. Roth in einem Netzwerk gemeinsamen Vorgehens auch unter Einbeziehung des Fachhandels und der Sportartikel-Industrie.

Zuletzt die Frage, wohin die Pandemie in der Wintersport-Entwicklung führen wird. Und da sind die Transformationsprozesse eigentlich klar: Wir brauchen verstärkte Emotionalisierung, entscheidend ist nicht die Zahl der Lifte oder Beschneiungsanlagen, sondern es sind die Bilder, die wir weitergeben, die Sehnsüchte von gemeinsamen Wintererlebnissen in der Natur.

Dazu ein Angebot an Digitalisierung, an Nachhaltigkeit, an Sicherheit und Qualität und Gesundheit. Auch das sind Themen, bei denen wir die Hausaufgaben im Wintersport machen müssen. Mit innovativen, agilen Produkten und einer Erweiterung des alpinen Skisports um Wintererlebnisse und um die Nicht-Beweger.

Skype-Schalte mit Prof. Dr. Ralf Roth Februar 2021
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